Berlin – Deutschland ist «Autoland» – wird es nun auch zur «Radnation»? Der Weg dahin ist lang. Denn bisher gehört der meiste Raum in den Städten dem Auto: Das Radfahren auf viel befahrenen Straßen ohne Radwege ist oft gefährlich, parkende Fahrzeuge versperren Rad- und Gehwege.
Die Autoindustrie als Schlüsselbranche hat eine starke Lobby – und der Radverkehr? Wurde jahrzehntelang vernachlässigt, meint der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) Doch es scheint sich etwas zu tun, der Hauptgrund ist der Klimaschutz. Der ADFC wird 40 Jahre alt, zu einem Symposium am Freitag in Berlin kommt auch der selbst ernannte «Fahrradminister», Verkehrsminister Andreas Scheuer (CSU). Wie ist der Stand der Dinge?
Unfälle:
Fahrradfahrer leben oft gefährlich auf deutschen Straßen. Von Januar bis Juli 2019 kamen nach Angaben des Statistischen Bundesamts 275 Radfahrer bei Verkehrsunfällen ums Leben: Das waren 16 mehr als im Vorjahreszeitraum oder eine Steigerung von 6,2 Prozent – bei insgesamt etwas weniger Verkehrsunfällen mit weniger Todesopfern. Immer wieder etwa kommt es zu schweren Unfällen, wenn meist erhöht sitzende Lkw-Fahrer Radler oder Fußgänger im toten Winkel übersehen, die sich neben ihrem Fahrzeug befinden. Abbiegeassistenten können Warnsignale aussenden oder automatisch bremsen.
Die Raumfrage:
Nicht umsonst hat der ADFC seine Jubiläumskampagne «#MehrPlatzFürsRad» genannt – das gilt als das Kernthema. Auch Helmut Dedy, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städtetages, sagt: «Straßen und Plätze sind mehr als nur Parkplatz und Fahrbahn für Autos.» Es gehe darum, den öffentlichen Raum für alle Beteiligten gerechter aufzuteilen. Zurzeit werden nach Angaben des Verkehrsministeriums in Deutschland rund 11 Prozent aller Wege mit dem Fahrrad zurückgelegt, in den Städten zum Teil deutlich mehr: «Diesen Anteil wollen wir in den kommenden Jahren signifikant erhöhen.» Für einen Umstieg aufs Fahrrad aber gilt eine gute Radverkehrsinfrastruktur als zentrale Voraussetzung, damit Radfahren komfortabel und sicher ist – und dazu brauchen Fahrräder mehr Raum. «Radfahrer sind gleichberechtigte Verkehrsteilnehmer im Straßenverkehr», sagt Scheuer. «Sie brauchen deshalb nicht nur mehr Akzeptanz, sondern vor allem mehr Platz.»
Investitionen und Infrastruktur:
Jahrzehntelang sind Milliarden in den Aus- und Neubau von Straßen geflossen sowie in die Schiene. Das ist auch im Etat 2020 nicht anders. Im laufenden Haushalt stellt das Verkehrsministerium 200 Millionen Euro Bundesmittel für den Radverkehr bereit, zur Förderung von Radwegen an Bundesstraßen oder Radschnellwegen – für den Bau und den Erhalt der restlichen Radwege sind die Länder, Kreise und Kommunen zuständig.
Nun soll es aber einen großen Batzen mehr Geld geben: Das Klimaschutzprogramm der Regierung sieht bis 2023 zusätzlich 900 Millionen Euro vor, um erstmals Infrastrukturprojekte der Länder und Kommunen zu fördern, wie Scheuer sagt. Damit stünden bis 2023 für den Radverkehr allein auf Bundesebene 1,45 Milliarden Euro zur Verfügung: «Ziel ist eine gerechtere Aufteilung des Straßenraums und eine möglichst lückenlose und sichere Radinfrastruktur.» Der Städtetag fordert eine «Radwegeoffensive» von Bund, Ländern und Kommunen. Dedy: «Da ist schon einiges angeschoben, aber es bleibt noch viel zu tun. Radschnellwege müssen ausgebaut werden, damit sie eine echte Alternative zum Auto bieten und die Städte mit dem Umland besser verbinden.»
Der ADFC fordert seit langem wesentlich mehr Mittel: «Deutschland muss mehr als 30 Jahre Stagnation beim Ausbau der Fahrradinfrastruktur aufholen – und das ist ein ziemlich dickes Brett», sagt Sprecherin Stephanie Krone. Die größte Herausforderung sei, dass auf Radverkehr spezialisierte Planer und entsprechende Beratungsbüros fehlten. «In den Niederlanden und Dänemark hat der Bau von breiten, durchgängigen Radwegen und sicheren Kreuzungen eine lange Tradition, in Deutschland ist das auch fachlich noch Neuland.»
Mehr Schutz:
Mehr Platz und mehr Rechte für Radler, strengere Regeln für Autos: Radfahren soll sicherer werden. Erst vor kurzem beschloss das Bundeskabinett Vorschläge Scheuers, dem aber noch die Länder zustimmen müssen. So sollen Bußgelder fürs Parken in der «zweiten Reihe», auf Geh- und Radwegen steigen. Außerdem soll es neben Fahrradstraßen künftig ganze Zonen geben – dort ist dann generell höchstens Tempo 30 erlaubt, der Radverkehr darf weder gefährdet noch behindert werden. Beim Rechtsabbiegen soll es einen Grünpfeil geben, der nur für Radfahrer gilt.
Bahnhöfe und und Mitnahme in Zügen:
Mit dem Rad zum Bahnhof, dann mit dem Zug weiter, oder das Rad gleich mitnehmen – eine schöne Idee. An der Umsetzung aber hapert es. Zum einen gibt es an vielen Bahnhöfen in Großstädten zu wenig Stellplätze für Fahrräder. Und eine Mitnahme in Zügen ist bisher schwierig. Das soll besser werden, die Bahn will das Angebot deutlich ausbauen. 2025 sollen auch auf allen Fernstrecken Fahrradstellplätze verfügbar sein, wenn auch noch nicht in jedem Zug.
Wie fahrradfreundlich ist also Deutschland?
Im Vergleich vor allem zu anderen Ländern fällt das Urteil der Branche und vieler Experten bisher ernüchternd aus. «Die Menschen in Deutschland wollen gern mehr Fahrrad fahren, aber die Verhältnisse auf den Straßen sind oft beängstigend», sagt ADFC-Sprecherin Krone. «Eine fahrradfreundliche Nation müssen wir erst noch werden.» Beim Städtetag heißt es: «Deutschland ist ein Aufsteiger-Land in Sachen Fahrrad.» Der Grünen-Verkehrspolitiker Stefan Gelbhaar wird noch deutlicher: «Radfahren in Deutschland ist immer noch auf Holzklasseniveau. Das wird besonders deutlich, wenn der Radverkehr in den Niederlanden oder in Dänemark im Vergleich betrachtet wird.» Es gebe extrem viel aufzuholen.
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(dpa)