London – Einsteigen, anlassen und losfahren: Was für Autofahrer heute ganz normal ist, darüber kann Michael Plag nur lachen. Obwohl es bitterkalt ist an diesem Novembertag im Londoner Hyde Park, steht der Mechaniker im Schweiß und schnauft wie ein Walross.
Denn bevor er mit mehr als 400 anderen Oldtimern aus den Kindertagen des Autos zur legendären Rallye nach Brighton aufbrechen kann, muss er erst einmal den 6,8 Liter großen Motor seines Mercedes Simplex zum Laufen bringen. Und das ist eine ordentliche Plackerei. Schließlich wiegt allein das 60 Zentimeter große Schwungrad des Reihenvierzylinders hinter der riesigen Kurbel 40 Kilogramm.
Zur Kraft braucht es aber auch Können: Wenn Plag vorher nicht so viel Öl gepumpt hat, bis in den Schaugläsern im Cockpit stete Tröpfchen fallen, von Hand die Kompression im Zylinder erzeugt und entsprechend Druck auf der Benzinleitung gebracht hat, wird er nie am ältesten Autorennen der Welt teilnehmen. Doch schon nach ein paar schweren Schwüngen huscht ein Lächeln über das Gesicht des Mechanikers aus dem Mercedes-Museum: Es zischt zwei, drei Mal. Unter der offenen Motorhaube schlagen kurz die Flammen hervor, dem Auspuff entweicht eine dunkle Wolke, und dann stellt sich ein Tuckern ein, das tapfer seinen Takt hält wie das Herz eines gut trainierten Sportlers.
Die Prozedur mag heute nach automobiler Steinzeit klingen. «Doch als der Wagen 1902 auf den Markt kam, war das eine Revolution», sagt Plag. Denn mit dieser Konstruktion haben Gottlieb Daimler und sein Chefingenieur Wilhelm Maybach endgültig Abschied vom damals vorherrschenden Kutschenstil genommen und so das erste moderne Automobil gebaut. Und das erste Auto, das die Millionäre dieser Zeit auch ohne Mechaniker bedienen konnten, sagt Plag und zitiert Kaiser Wilhelm II.: Der sei nach einer ersten Demonstration so angetan gewesen, dass er die Schwaben mit dem Ausspruch «Das ist ja alles sehr simplex hier» lobte und dem weißen Riesen seinen Namen gab.
Auch das Fahren geht einfacher als gedacht. Der Simplex hat schon eine richtige Gangschaltung. Die ist zwar außen an der Karosserie angeschlagen, die Pedale sind vertauscht und die aus Messing gegossene Kupplung geht so schwer, dass man zum Feingefühl eines Balletttänzers die Kraft eines Profikickers im Fuß haben muss. Aber im Grunde unterscheidet sich die Bedienung nicht von der einer A-Klasse. Nach ein paar Meilen kommt man überraschend gut zurecht.
Zumindest, solange die Straße gerade ist und das Tempo gemächlich bleibt. Denn wer einmal versucht, den tonnenschweren Wagen mit dem riesigen Holzlenkrad bei Vollgas auf Kurs und mit der Bandbremse auf der Zwischenwelle des Kettenantriebs oder den Trommelbremsen an den Hinterrädern im Zaum zu halten, der zieht den Hut vor Männern wie Emil Jellinek. Der in Nizza lebende Diplomat und Geschäftsmann hatte den Simplex bei Gottlieb Daimler in Auftrag gegeben und ihn bei Bergrennen rund um Nizza eingesetzt. In jener Zeit war kein anderes Auto schneller, und der 29 kW/40 PS starke Rennwagen hat es mit 111 km/h Spitze ins Guinnessbuch geschafft, erzählt Plag. Eine Vorstellung, bei der einem heute auf dem Weg von London nach Brighton angst und bange wird.
Nicht nur, weil er schon bei viel weniger Tempo kaum zu kontrollieren ist oder die einzige Sicherheitsausstattung aus den paar fingerdünnen Brettern des hölzernen Aufbaus besteht. Sondern auch, weil der Wert des Oldtimers mittlerweile ins Unermessliche geht. Schon damals musste man ein Vermögen für den Simplex hinblättern, erzählt Plag. 26 000 Goldmark kostete der Rennwagen – etwa das 30-fache des durchschnittlichen Jahreseinkommens in Industrie und Handwerk jener Zeit. Doch heute ist der weiße Riese im wahrsten Sinne des Wortes unbezahlbar. Denn erstens hat der Oldtimer einen Versicherungswert im zweistelligen Millionenbereich. Und zweitens ist von nur kleinen Stückzahlen dieser Zeit nur eine Handvoll übrig geblieben.
Fotocredits: Daniele Di Miero,Craig Pusey,Craig Pusey,Craig Pusey,Craig Pusey,Craig Pusey,Craig Pusey
(dpa/tmn)